Opfer und Täter in Schubladen

Während wir uns in ideologischen Grabenkämpfen verlieren, wächst mit jedem traumatisierten Menschen der Nährboden für Hass und Gewalt. Wollen wir aus diesem Teufelskreis ausbrechen, sollten wir uns davor hüten, abweichende Meinungen vorschnell in Schubladen zu stecken.

"Stoppt den Genozid!" und "Apartheidstaat Israel!" brüllen die einen, "Victim-Blaming!" und "Antisemit*innen!" schallt es zurück.

Mit der Eskalation der Gewalt im Nahen Osten kochen die Emotionen hoch. Nicht nur bei den Betroffenen, sondern auch bei Beobachter*innen auf der ganzen Welt. In den letzten Wochen haben alle, die etwas zu sagen haben, ihren Senf zum Nahost-Konflikt gegeben. Und auch alle, die eigentlich gar nichts zu sagen haben.

Stimmen, die in all diesem Getöse für Versöhnung und Frieden plädieren, sind rar. Verständnis für die jeweils andere Position sucht man meist vergebens. Stattdessen: Pauschalisierungen, Anfeindungen und entmenschlichende Sprache soweit das Auge reicht. 

Während in den Kommentarspalten der Welt ideologische Grabenkämpfe ausgetragen werden, nehmen antisemitische und islamophobe Übergriffe weltweit zu. Auf einem Flughafen in Russland macht ein wütender Mob Jagd auf Juden. In den USA tötet ein Mann einen sechsjährigen Jungen mit 26 Messerstichen, weil er Muslim ist. Währenddessen sterben im Gazastreifen Tausende.

Bei aller Komplexität des Nahostkonflikts ist klar: Die Massaker, bei denen Mitglieder der Hamas am 7. Oktober mehr als 1400 Menschen ermordeten, sind in keiner Art und Weise zu rechtfertigen. Die zentrale Frage, an der sich die Geister scheiden: Kann man Ursachen und Motive benennen, ohne die Gräueltaten zu rechtfertigen?

Als verständliche emotionale Reaktion auf dieses traumatische Ereignis wird seine Einordnung in einen historischen Kontext von vielen als amoralisch oder gar antisemitisch bezeichnet. Doch die Geschichte des Konflikts zwischen Israel und Palästina beginnt nicht erst am 7. Oktober 2023, sondern reicht viele Jahrzehnte zurück. Wer diese historische Tatsache leugnet, entzieht dem Konflikt die Grundlage für eine Lösung und öffnet einer weiteren Eskalation Tür und Tor.

Lange Zeit habe ich all diese Entwicklungen mehr oder weniger stillschweigend beobachtet, war schockiert, genervt und wütend über die Bilder, die Beiträge und die Kommentare.

Ein wichtiger Grund, warum ich mich nicht öffentlich geäussert habe, war die Angst davor, in eine Schublade gesteckt zu werden, in die ich nicht gehöre. Denn eines ist sicher: Schubladen haben Hochkonjunktur.

Also entweder schweigen oder schubladisiert werden.

Was ist schlimmer? Zu schweigen, während vor deinen Augen als Antwort auf etwas Schreckliches noch mehr Schreckliches geschieht? In Lethargie zu versinken, während sich die Spirale von Gewalt und Trauma immer weiter dreht? Oder in eine Schublade gesteckt zu werden für das, was man sagt?

"Das Problem dieser Welt ist, dass die Klugen so voller Selbstzweifel und die Dummen so voller Selbstvertrauen sind."

Als ich heute beim Frühstück über dieses Zitat von Bukowski gestolpert bin, habe ich mich entschlossen, auf dieser modernen Agora, diesem Marktplatz der Meinungen auch meinen Senf dazuzugeben - trotz Selbstzweifeln und IQ eines Normalsterblichen. Nicht weil ich glaube, damit die Welt verändern zu können, sondern weil ich mit all den Stimmen, die derzeit am lautesten schreien, nicht einverstanden bin. Und ich hoffe, die eine oder den anderen zum kritischen Hinterfragen anzuregen - nicht nur von Beiträgen in den von Propaganda durchtränken sozialen Medien, sondern auch von Artikeln und Kommentaren in den etablierten westlichen “Qualitätsmedien”. Wer glaubt, dass ein solcher Informationskrieg bei ihnen keine Spuren hinterlässt, irrt.

“All diese Menschen, die gerade aus ihren Löchern gekrochen kommen und immer so getan haben, als würden sie nur Israel hassen, hassen in Wahrheit Juden” Zelda Biller in der NZZ

Bei diesem Zitat handelt es sich nicht um einen polemischen Kommentar eines aufgebrachten Lesers einer Boulevardzeitung, sondern um die Schlagzeile auf der Titelseite von NZZ-Online Online vom 4. November 2023. Die verallgemeinernde, pauschalisierende und polarisierende Sprache voller Emotionen und Metaphern ist nur eines von vielen Beispielen, wie Kritik an der israelischen Regierung als antisemitisch stigmatisiert und dringend notwendige, sachliche und differenzierte Diskussionen und Debatten verunmöglicht werden.

Man kann, man darf und man muss ohne Wenn und Aber...

Gleichzeitig müssen wir...

  • ...all jenen entschieden entgegentreten, die versuchen, die Einordnung der aktuellen Eskalation in einen grösseren historischen Kontext zu verhindern.

  • ...all jenen entschieden widersprechen, die die Gräueltaten der Hamas rechtfertigen.

  • ...all jene an den Pranger stellen, die Antisemitismus instrumentalisieren, um berechtigte Kritik an der israelischen Regierung zu unterbinden.

  • ...all jene an den Pranger stellen, die Islamophobie instrumentalisieren, um berechtigte Kritik zu verhindern.

Nicht zuletzt halte ich es persönlich für wichtig...

Die letzten Punkte sind völlig subjektiv und können beliebig ergänzt oder gestrichen werden. Das sind keine Widersprüche. Es sind alles Entwicklungen und Themen, die ich in den letzten Wochen mit Sorge beobachtet habe. Kritik, über die in einer aufgeklärten Gesellschaft offen gesprechen und mit Respekt vor Position des anderen gestritten werden muss. Berechtigte Sorgen, Bedürfnisse und Interessen, die in einer Demokratie nicht unter den Tisch gekehrt werden dürfen.

Warum?

Weil all diese Punkte die Polarisierung in der Gesellschaft weiter verschärfen und einer Lösung im Weg stehen. Wie können wir von Israelis und Palästinensern erwarten, dass sie sich um eine friedliche Lösung des Konflikts bemühen, wenn wir im Westen nicht in der Lage sind, andere Positionen zu respektieren und ihnen mit sachlichen Argumenten zu begegnen?

Jeder Mensch interpretiert die oben genannten Themen anders, gewichtet sie unterschiedlich - jede*r vor dem Hintergrund ihrer oder seiner persönlichen Erfahrungen, Geschichte und Sozialisation.

Das erklärt auch, warum im sogenannten globalen Süden, in der arabischen Welt, in Deutschland oder in den USA der Konflikt völlig anders interpretiert wird. Und selbst innerhalb dieser Regionen und der jeweiligen Gesellschaften gibt es ein breits Spektrum an Meinungen.

Die meisten dieser Sichtweisen sind nicht per se falsch, verwerflich oder antisemitisch. Die Welt ist nicht schwarz oder weiss. Sie ist hochkomplex. Und manchmal doch so einfach. Denn Mensch ist Mensch. Und Opfer können zu Täter*innen werden.

Um es mit den Worten von Aleskandr Solzhenitsyn zu sagen:

"The line between good and evil runs not through states, nor between classes, nor between political parties -- but right through every human heart -- and through all human hearts. This line shifts. Inside us, it oscillates with the years. And even within hearts overwhelmed by evil, one small bridgehead of good is retained. And even in the best of all hearts, there remains... an un-uprooted small corner of evil."

Als in der Schweiz aufgewachsener und in Südafrika lebender Mensch, der aktiv Medien aus beiden Ländern konsumiert (von der NZZ über den Blick bis zur WOZ, vom Daily Maverick über News24 bis zu Mail & Guardian), bin ich aktuell mit diametral unterschiedlichen Standpunkten konfrontiert, die sich in den sozialen Medien zuspitzen. Ich sehe das als Chance, um aus meiner Bubble auszubrechen und meine eigenen Standpunkte täglich zu hinterfragen.

Wenn eine Südafrikaner*in mittleren Alters im Oktober 2023 in Johannesburg mit einem Schild auf die Strasse geht, auf dem "End Apartheid in Israel" steht, sollte man ihr erst einmal zuhören, ohne sie vorschnell zu schubladisieren.

Ja, es kann es sein, dass sie antisemitisch ist. Muss es aber nicht. Es sind in erster Linie ihre eigenen Erfahrungen mit weissen Siedlern und dem südafrikanischen Apartheidsystem, die ihre Wahrnehmung dieses Konflikts prägen. Und deshalb ist es für sie völlig legitim “Fee Palestine!” zu rufen.

Im Bemühen um Verständnis für die jeweils anderen Position liegt meines Erachtens der Schlüssel zu einem respektvollen Miteinander. Das bedeutet nicht, Gräueltaten in irgendeiner Form zu rechtfertigen, oder Hass und Hetze zu akzeptieren.

All die Gewalttaten, Massaker und Kriegsverbrechen im israelisch-palästinensischen Konflikt haben seit den vierziger Jahren auf beiden Seiten viele traumatisierte Menschen hinterlassen. Nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober und der Reaktion Israels ist ihre Zahl noch einmal explodiert.

Mit jedem traumatisierten Menschen, der gerade in Gaza ein Familienmitglied verliert, wächst der Nährboden für Hass und Gewalt weiter, schreitet die Radikalisierung voran. Und ein friedliches und respektvolles Miteinander rückt ein Stück weiter in die Ferne.

Wie kann man in einem solchen Umfeld wieder eine gemeinsame Basis finden, um die Spirale der gegenseitigen Traumatisierung zu stoppen und hoffnungsvoll in die Zukunft blicken zu können? Ich weiss es nicht. Aber eines ist sicher: Schubladendenken bringt uns nicht weiter.

Ich glaube, uns bleibt nichts anderes übrig, als mit gutem Beispiel voranzugehen. Sich mit Meinungen auseinandersetzen, die der eigenen Wahrnehmung widersprechen. Und die eigene Meinung nach bestem Wissen und Gewissen mit verschiedenen Quellen zu überprüfen, bevor man sie verkündet.

Ich persönlich unterstütze mit diesem Text die Forderungen nach einem sofortigen Waffenstillstand. Wer mir weismachen will, dass ich damit Israel in irgendeiner Weise das Recht auf Selbstverteidigung abspreche, der verschliesst die Augen vor der Realität. Denn das Recht auf Selbstverteidigung hat Grenzen. Darauf hinzuweisen, ist kein Antisemitismus, sondern unsere Pflicht.

PS: Wer lieber handelt als streitet, sollte den vielen trauernden und traumatisierten Menschen seine Unterstützung anbieten - egal auf welcher Seite des Konflikts sie stehen. Davon gibt es bereits heute genug - nicht nur im Nahen Osten.

Michael Heger